- Art der Stätte
- Berufsumschichtung, ICA-Vorbereitung, Jugend-Alija-Vorbereitung, Mittleren-Hachschara (Mi-Ha), Reguläre Hachschara, Religiöse Hachschara
- Gegründet
- 1932
- Eröffnung
- 15.07.1932
- Schließung
- 09.1943
- Betriebsfläche
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230 HektarCirca 230 Hektar sowie weitere Wirtschaftsflächen wie Wiesen, Weiden, Koppeln und Waldgebiete.
- Ausbildungsfelder
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Gartenbau, Hauswirtschaft, Landwirtschaft, TierwirtschaftViehzucht (Rinder, Pferde, Schweine), Geflügelzucht (Gänse, Puten, Enten, Hühner), Gärtnerei (Obst, Gemüse), Ackerbau (Getreide), Werkstatt (Schlosserei, Stellmacherei, Schmiede und Tischlerei), Milchverarbeitung
- Beschreibung
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Auf Initiative der Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge und nach mehrjährigen Vorbereitungen konnte 1932 das Landwerk Neuendorf auf dem Gut Neuendorf in Brandenburg (bei Fürstenwalde) in Betrieb genommen werden. Es war ursprünglich als jüdische Arbeiterkolonie geplant, um in der Weltwirtschaftskrise Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für jüdische Erwerbslose und Wanderarbeiter zu schaffen. Trägerverein war die Jüdische Arbeitshilfe e. V. (Landwerk Neuendorf) in Berlin. Sie hatte mit Unterstützung des Preußischen Wohlfahrtsministeriums und des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden sowie weiterer jüdischer Wohlfahrtsorganisationen das Gut von den Erben des ehemaligen jüdischen Eigentümers Hermann Müller übernommen.
Das Landwerk hat infolge der dramatisch veränderten Rahmenbedingungen durch die Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 kaum im Rahmen seiner ursprünglichen Zielsetzung gearbeitet. Stattdessen stand die land- und hauswirtschaftliche Ausbildung als Voraussetzung der Auswanderung im Vordergrund. Eine Ausnahme war anfangs der reichsweite sogenannte Freiwillige Arbeitsdienst (FAD), an dem auch jüdische Einrichtungen wie das Landwerk teilnahmen. In Neuendorf konnte so jüdischen arbeitslosen Jugendlichen, aber auch schulentlassenen Abiturient:innen eine zeitweise Beschäftigung geboten werden, die insbesondere der Urbarmachung brachliegender Flächen diente. 1933/34 arbeitete zudem eine Gruppe des Bundes deutsch-jüdischer Jugend (BdjJ) im Landwerk. Ihre Ausbildung im Rahmen der sogenannten jüdischen Berufsumschichtung zielte zu diesem Zeitpunkt noch auf eine „deutsch-jüdische Synthese“ und eine landwirtschaftliche oder handwerkliche Existenz in Deutschland.
Das Landwerk Neuendorf war in den 1930er-Jahren das flächenmäßig weitaus größte jüdische Lehrgut in Deutschland. Es bot umfangreiche Möglichkeiten für landwirtschaftliche, gartenbauliche und hauswirtschaftliche Ausbildung von jüdischen Mädchen und Jungen zur Vorbereitung auf ihre Alija und ihr zukünftiges Gemeinschaftsleben außerhalb Deutschlands. Auch die für einen Landwirtschaftsbetrieb notwendigen Handwerke konnten dort erlernt werden.
Die Größe und Vielfalt an Wirtschaftsflächen und Nutztierbeständen ermöglichte eine praxisnahe, in der Regel zweijährige Ausbildung. Das Landgut hatte Getreidefelder, Wald, ausgedehnte Weideflächen, Gärtnereibeete mit Gemüsekulturen, außerdem einen Park, ein großes Gewächshaus, zahlreiche Obstbäume und Obstkulturen, eine Imkerei. Zum Viehbestand gehörten 140 Rinder, 20–30 Pferde und aus Gründen der Wirtschaftlichkeit ca. 350–400 Schweine. Hinzu kam die Geflügelzucht mit Gänsen, Puten, Enten und einem Hühnerstall mit 500 Leghorn Hühnern.
In den ersten Jahren nach Gründung des Landwerks wurden weitere Wirtschaftsflächen erschlossen und der personalintensivere Gartenbau stark ausgebaut, was die Ausbildungskapazitäten steigerte. Eine Werkstatt für auf den Bedarf der Landwirtschaft bezogene Arbeiten in den Bereichen Schlosserei, Stellmacherei, Schmiede und Tischlerei war ebenfalls, auch für Ausbildungszwecke, vorhanden.
Die von Erna Moch geleitete Hauswirtschaft einschließlich Haushalt, Küche und Wäscherei hatte zu manchen Zeiten eine Belegschaft von 100 Personen und mehr zu versorgen. Zu dieser Ausbildung in Hauswirtschaft, die im Rahmen einer relativ klaren Geschlechterrollenteilung Domäne der Mädchen war, gehörte auch die Geflügelzucht und Milchwirtschaft.
Die gute Verkehrsanbindung durch den Anschluss an die Oderbruchbahn mit gleich zwei Bahnstationen nahe bzw. auf dem Areal des Landwerks (Haltepunkt Waldfrieden sowie Bahnstation Neuendorf-Buchholz) unterstützte den Absatz der erzeugten Produkte.
Charakteristisch für Neuendorf waren, unterstützt von verschiedenen jüdischen Organisationen, die parallel durchgeführten unterschiedlichen „Ausbildungsprogramme“ neben der Hachschara im engeren Sinne. Auf dem Gutshof lebten, lernten und arbeiteten Mitglieder des BdjJ, Gruppen der zionistischen Bünde Makkabi Hazair, Habonim, des orthodoxen Jugendbundes Noar Agudati Israel sowie vom Hechaluz unterstützte Chaluzim. Parallel dazu absolvierten Gruppen der Jugend-Alija hier ihre Vorbereitungszeit für die gemeinsame Alija und es wurden Emigrant:innen für ihre Ansiedlung in Argentinien, Brasilien oder Australien ausgebildet. Bis 1936 wanderten auf diesem Wege ca. 600 Personen aus.
Während der Novemberpogrome 1938 wurde auch das Landwerk Neuendorf angegriffen. Alex Moch, der Leiter des Gutes, und die schon erwachsenen Auszubildenden wurden in das KZ Sachsenhausen in Oranienburg verschleppt. Alex Moch gelang in der Folgezeit die Befreiung seiner Schützlinge aus dem Konzentrationslager und die gemeinsame Emigration nach England. Die jüngeren Auszubildenden waren in Neuendorf geblieben. Zur drohenden Schließung und Enteignung des Landwerks kam es nicht, doch der Betrieb bekam zunehmenden Zwangscharakter. So kamen manche nun durch den, den Juden und Jüdinnen aufgezwungenen, sogenannten „Arbeitseinsatz“ nach Neuendorf.
Das Landwerk Neuendorf wurde zu einem Zwangsarbeitslager für die Verbliebenen, weitere Jugendliche aus zwangsweise aufgelösten anderen Hachschara-Einrichtungen kamen ebenfalls nach Neuendorf. Der Leiter von Gut Winkel, Martin Gerson, kam mit seiner Familie und allen dortigen Chaluzim im Juni 1941 nach Neuendorf und übernahm die Führung des Betriebes. Ab 1942 fungierte Neuendorf auch als Sammellager für Deportationen nach Theresienstadt und Auschwitz. Im Juni 1943 wurden die beinahe letzten verbliebenen jüdischen Einwohner:innen des Landwerks Neuendorf nach Theresienstadt deportiert, darunter Martin Gerson und seine Familie, sowie einige Jugendliche. Die meisten der Deportierten überlebten nicht. Bis Herbst 1943 leisteten noch einige wenige Chaluzim (die als sogenannte ‚jüdische Mischlinge‘ nach den NS-Rassegesetzen eingestuft worden waren) Zwangsarbeit in Neuendorf. Das Landwerk blieb auch danach Zwangsarbeitslager und fungierte zudem als logistische Zentrale für umliegende Zwangsarbeitsstätten.
Weit über tausend Jüdinnen und Juden gelang durch die Ausbildung im Landwerk Neuendorf ihre Alija bzw. die Emigration.
1950 wurde Neuendorf Volkseigenes Gut (VEG) der DDR. Gebäude und Areal sind in Teilen erhalten und dienen als Wohn- und Arbeitsorte. Dank der Arbeit des Vereins Geschichte hat Zukunft – Neuendorf im Sande e.V. (https://geschichte-hat-zukunft.org/) vermitteln heute Kulturveranstaltungen, Ausstellungen und Gedenkzeichen die historische Bedeutung der ehemaligen jüdischen Ausbildungsstätte.
- Erhaltungszustand
- teilweise erhalten
- Zugehörige Organisationen
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Bund deutsch-jüdischer Jugend (Assoziierte)Habonim Noar Chaluzi (Deutschland) (Assoziierte)Hechaluz. Deutscher Landesverband (Assoziierte)Hilfsverein der Juden in Deutschland (Assoziierte)Jewish Colonisation Association (Assoziierte)Jüdische Arbeitshilfe e. V. (Landwerk Neuendorf) (Trägerschaft)Jüdischer Pfadfinderbund Makkabi Hazair (Assoziierte)Noar Agudati Israel (Assoziierte)Reichsvertretung der Deutschen Juden (Assoziierte)
- Zugehörige Personen
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Gerson, Martin (Leitung)Moch, Alexander (Leitung)Moch, Erna (Leitung)
- Literatur
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Anneliese-Ora Aloni-Borinski: Erinnerungen 1940–1943. Nördlingen: Verlag G. Wagner 1970.
Clara Grunwald: „Und doch gefällt mir das Leben“. Die Briefe der Clara Grunwald 1941–1943. Mannheim: Persona-Verlag Buchholz 1985.
Landwerk Neuendorf, in: Zeitschrift für Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik 4 (1932). S. 257–260.
Harald Lordick: Das Landwerk Neuendorf. Berufsumschichtung – Hachschara – Zwangsarbeit, in: Ulrike Pilarczyk; Arne Homann; Ofer Ashkenazi (Hrsg.), Hachschara und Jugend-Alija. Wege jüdischer Jugend nach Palästina 1918–1941, Steinhorster Beiträge zur Geschichte von Schule, Kindheit und Jugend. Gifhorn: Gemeinnützige Bildungs- und Kultur GmbH des Landkreises Gifhorn 2020. S. 135–163. online: <https://doi.org/10.24355/dbbs.084-202104201055-0>.
Harald Lordick: Das Landwerk Neuendorf in den Novemberpogromen 1938, in: Arbeitskreis Jüdische Wohlfahrt (08.11.2020). online: <https://akjw.hypotheses.org/1032>.
Harald Lordick: Hachschara und ‚Berufsumschichtung‘ in der Mitte der 1930er Jahre – Das jüdische Landwerk Neuendorf im Spiegel zeitgenössischer Erfahrungsberichte, in: Arbeitskreis Jüdische Wohlfahrt (07.06.2020). online: <https://akjw.hypotheses.org/779>.
Harald Lordick: Landwerk Neuendorf in Brandenburg. Jüdische Ausbildungsstätte, Hachschara-Camp, NS-Zwangslager – Gedenkort?, in: Kalonymos 20. Jahrgang (Heft 2) (2017). S. 7–12. online: <http://www.steinheim-institut.de/edocs/kalonymos/kalonymos_2017_2.pdf#page=7>.
Rudolf Melitz (Hrsg.): Das ist unser Weg - Junge Juden schildern Umschichtung und Hachscharah. Berlin: Joachim Goldstein Verlag 1937. online: <http://d-nb.info/1032728663>.
Empfohlene Zitation
Harald Lordick, Landwerk Neuendorf, in: Hachschara als Erinnerungsort, 18.11.2024 (Stand 15.12.2023). <https://hachschara.juedische-geschichte-online.net/ort/1> [04.12.2024].
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