- Art der Stätte
- Berufsumschichtung
- Gegründet
- 1935/1936
- Eröffnung
- 05.1936
- Schließung
- 31.08.1941
- Betriebsfläche
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207 Hektar550 Morgen Ackerland, 160 Morgen Mischwald, 75 Morgen Wiese und Weideland, 10 Morgen Gärtnerei
- Ausbildungsfelder
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Gartenbau, Hauswirtschaft, Holzbearbeitung, Landwirtschaft, TierwirtschaftGärtnerei (Gemüse, Obst); Viehzucht (Rinder, Schweine, Ziegen); Ackerbau (Getreide, Kartoffeln, Rüben); Geflügelzucht (Hühner); Milchverarbeitung; Tischlerei; Schmiede; Forstwirtschaft; Hauswirtschaft (Nähen, Kochen, Backen)
- Beschreibung
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Noch vor Ende des Jahres 1935 wurde die Gründung einer nicht-zionistisch geprägten Auswanderungsschule für deutsch-jüdische Jugendliche beschlossen, die eine Alternative zu den Hachscharot bieten sollte. Am 16. Januar 1936 fand in den Räumen der Reichsvertretung der Juden in Deutschland (RV) die konstituierende Versammlung statt. Im Kuratorium und im Arbeitsausschuss wirkten Vertreter:innen der wichtigsten jüdischen Organisationen Deutschlands, mit Ausnahme der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD), mit. Für die Etablierung des Lehrgutes waren, neben der RV, vor allem der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) und der Bund deutsch-jüdischer Jugend (BdjJ) von zentraler Bedeutung. Die Leitung des Gutes sowie die geistige und charakterliche Erziehung der jungen Menschen wurde Curt Bondy übertragen, einem habilitierten Psychologen, der sich in der Weimarer Zeit mit seinen Reformbemühungen im Jugendstrafvollzug einen Namen gemacht hatte und selbst jugendbewegt und reformpädagogisch sozialisiert war. Geplant war die Ausbildung von bis zu 125 Jugendlichen im Alter zwischen 15 bis 23 Jahren in Landwirtschaft, Gartenbau und Handwerk, respektive Hauswirtschaft für die weiblichen Teilnehmer:innen. Die tatsächliche Belegschaft variierte über die Jahre jedoch deutlich. So lebten Ende 1936 erst 70 Auszubildende auf dem Gut, bis Sommer 1937 wuchs die Belegschaft auf rund 100 Personen. Das anvisierte Ziel war eine Gemeinschaftssiedlung in Übersee und, damit einhergehend, eine langfristige Verwurzelung der Auszubildenden in der Landwirtschaft.
Nach langer Suche und in Ermangelung besserer Alternativen pachtete die RV im April 1936 das Gut Groß-Breesen im ehemaligen Niederschlesien, rund 30 Kilometer nördlich von Breslau. Dieses war im Besitz der polnisch-jüdischen Familie Rohr, die 1933 nach Polen geflohen war. Schon in den Jahren 1930/31 war das Gut vom Hechaluz für die Hachschara genutzt worden. Anfang Mai 1936 trafen die ersten Auszubildenden auf dem Lehrgut ein. Das Gut umfasste ein herrschaftliches Herrenhaus, das „Schloss“ genannt, in dem die Auszubildenden und der Lehrstab untergebracht waren. Umgeben war dies von einem weit angelegten Park, einem großzügigen Wirtschaftshof mit Stallungen, Scheunen und Instwohnungen (nicht-jüdische Landarbeiter:innen), der Gärtnerei und einem abseits gelegenem Jägerhaus. Daran angrenzend lagen die Felder und Wälder. Trotz anfänglicher Bedenken, dass das Gut zu groß war und sich in einem schlechten, allgemeinen Zustand befand, war die Bewirtschaftung so ertragreich, dass ab Juni 1938 keine finanziellen Zuschüsse mehr notwendig waren.
Die praktische Ausbildung in der Landwirtschaft und im Gartenbau wurden um theoretische Unterrichtseinheiten (Tierzucht, Düngung oder Fruchtwechsel) ergänzt. Die Feldarbeit blieb außerhalb der Erntezeit den jungen Männern vorbehalten. Für die männlichen Auszubildenden gehörten zudem die Tischlereiausbildung, Waldarbeiten und die Viehzucht (Rinder, Schweine, Ziegen) zur Ausbildung. Für die jungen Frauen war vor allem das Feld der Hauswirtschaft vorgesehen, zu dem auch die Hühnerzucht zählte. Auch die Arbeit in der Gärtnerei oblag vor allem den weiblichen Teilnehmer:innen. Der Dienst im Kuhstall war hingegen für alle Auszubildenden verpflichtend. Aus der ungleichen Arbeitsverteilung ergaben sich bereits in den ersten Jahren des Lehrbetriebs Diskussionen um die Mädchenausbildung wie auch die Rolle der Frau in der anvisierten Siedlung in Übersee. Auch darin mag ein Grund liegen, warum nie der erhoffte zahlenmäßige Ausgleich zwischen weiblichen und männlichen Auszubildenden erreicht wurde. Während die Mehrzahl der jüngeren Auszubildenden vorher keinerlei Erfahrungen mit dem landwirtschaftlichen Arbeitsalltag hatte, waren die älteren Praktikant:innen durch vorherige Tätigkeiten bei Bauern oder in anderen Lehrgütern mit der Arbeit auf dem Gut vertraut und unterstützten den Lehrstab in der praktischen wie theoretischen Ausbildung.
Der anfangs erarbeitete Erziehungsplan sah zudem die kulturelle und geistige Bildung der Jugendlichen vor, um, so die Forderung, „nicht zu verbauern“. Neben Unterricht in Fremdsprachen, Mathematik und Biologie schloss dies auch die Heranführung an einen bildungsbürgerlichen Kanon von klassischer Musik und Literatur mit ein. Zu diesem Zwecke fanden Musizierabende statt, Tageszeitungen lagen im Versammlungsraum aus und das politische Tages- und Weltgeschehen wurde erörtert. Zu Bondys Erziehungsarbeit gehörte zudem die wöchentlich stattfindende Lebenskunde, in der Fragen des (alltäglichen) Zusammenlebens und moralische Standpunkte diskutiert und vermittelt wurden.
Einen weiteren zentralen Aspekt der Bildungsarbeit sollten die charakterliche Formung sowie die bewusste „jüdische Erziehung“ einnehmen, wobei diese eng miteinander verbunden waren. Von einer bewussten Beziehung zum Judentum und zur jüdischen Gemeinschaft wurde sich eine Stärkung der zumeist wenig bis gar nicht jüdisch-religiös geprägten Jugendlichen in einer Zeit der Umbrüche, Veränderungen und Bedrohung erhofft. Ab 1937 kamen zeitweise externe Lehrer auf das Gut, um Hebräisch zu unterrichten. Ältere Praktikant:innen und Ruth Scheier nahmen sich der Ausgestaltung des Shabbats und wichtiger jüdischer Feiertage an. Trotz dieser Bemühungen gelang es nicht, in Groß-Breesen ein dezidiert „jüdisches Gemeinschaftsgefühl“ zu etablieren.
Die anfängliche Auswanderungsplanung sah die Errichtung einer Kollektivsiedlung der Groß-Breesener in Südamerika vor. Im Juni 1938 reiste die erste Gruppe von sechs Groß-Breesenern nach Argentinien aus, um in der von der Jewish Colonisation Association gegründeten Kolonie Avigdor zu siedeln. Die Hoffnung, dass weitere Auszubildende den ersten Siedler:innen folgen könnten, hatte sich Ende Sommer 1938 aufgrund der restriktiven Einwanderungspolitik der argentinischen Regierung beinahe gänzlich zerschlagen. Letztlich hatte nur die Siedlung in Hyde Farmlands im US-Bundesstaat Virginia, wo eine Gruppe von knapp 30 Auszubildenden Zuflucht fand, über mehrere Jahre (1938–1941) Bestand.
Wie viele Hachscharot wurde Groß-Breesen im Zuge des Novemberpogroms 1938 verwüstet. Alle männlichen Auszubildenden ab 18 Jahren, Curt Bondy und die jüdischen Angestellten wurden für mehrere Wochen im KZ Buchenwald inhaftiert. Die jüngeren sowie die Frauen und Mädchen verblieben auf dem Gut, dessen Leitung vorübergehend Ruth Hadra, Gruppenführerin und Sekretärin Bondys, und Ruth Scheier übertragen wurde. Zwar konnte das Lehrgut vorerst weiterbestehen, jedoch änderten sich die Strukturen und Bedingungen im Verlauf des Jahres 1939 merklich. Formal der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland unterstellt, stand Groß-Breesen, wie die anderen noch bestehenden jüdischen Ausbildungsstätten, unter der Kontrolle von Gestapo sowie SD beziehungsweise dem im September 1939 geschaffenen Reichssicherheitshauptamt. Als Nachfolger Curt Bondys hatte der Pädagoge Walter Bernstein die Leitung des Lehrgutes übernommen. Im Sommer 1939 galt Groß-Breesen als voll belegt. Mit Kriegsbeginn im September 1939 wurden die Arbeitszeiten ausgedehnt, die Ausbildung, der theoretische Unterricht und die Freizeit dafür massiv beschnitten. Trotzdem waren Bernstein und einige ältere Auszubildende darum bemüht, das Gemeinschaftsleben aufrechtzuerhalten. Es gab weiterhin Diskussionen um religiöse und lebensweltliche Fragen, die Bibliothek wurde ausgebaut und auch Musizierabende fanden gelegentlich statt. Die Kontrolle durch das NS-Regime wurde jedoch auch daran deutlich, dass im Laufe der Zeit mehrfach Kleingruppen aus Groß-Breesen zum Arbeitseinsatz in andere landwirtschaftliche Güter oder Forsteinsatzlager abkommandiert wurden. Am 31. August 1941 erfolgte auf Befehl der Gestapo schließlich die offizielle Auflösung des Auswandererlehrguts Groß-Breesen und dessen Umwandlung in ein Zwangsarbeitslager. Im Oktober 1941 wurde Walter Bernstein seiner Funktion als Leiter des ehemaligen Lehrguts enthoben und gemeinsam mit seiner Frau und seinem Kind dem Forstarbeitslager Kaisermühl zugeteilt, dessen Leitung er übernehmen sollte, bis er im April 1943 nach Auschwitz deportiert und dort Ende des Jahres 1943 ermordet wurde. Die Leitung des Arbeitslagers Groß-Breesen übernahm ab Dezember 1941 ein Herr Hildebrandt, der sich durch Schikanen der verbliebenen Jugendlichen hervortat. Lebensmittelrationen wurden stark gekürzt und die Sonntagsarbeit eingeführt. Im Oktober 1942 erfolgte die zwangsweise Räumung des Schlosses durch die letzten Breesener, die fortan auf dem Wirtschaftshof in sehr beengten Verhältnissen untergebracht wurden. Anfang 1943 wurde im Schloss ein Wehrmachtslazarett eingerichtet. Mit dem Eintreffen der ersten Verwundeten war den verbliebenen 25 Jungen der Zutritt zum Schloss endgültig untersagt. Ende Februar 1943 wurden die letzten Groß-Breesener nach Auschwitz deportiert.
Mit der Kollektivierung Ende der 1940er-Jahre wurde das Gut zu einem staatlich-landwirtschaftlichen Betrieb der Volksrepublik Polen (PGR). 1999 erwarb es der aktuelle Besitzer.
- Erhaltungszustand
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teilweise erhalten
Das Gut und die umliegende Landschaft wurden umfassend renoviert bzw. umgestaltet.
Unter dem Namen „Pałac Brzeźno“ befindet sich heute ein Golf- und Spa-Hotel in dem Schloss und den umliegenden Gebäuden. Das Schloss und der Park stehen unter Denkmalschutz. Siehe: https://www.palacbrzezno.pl/ - Zugehörige Organisationen
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Bund deutsch-jüdischer Jugend (Assoziierte)Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (Assoziierte)Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (Träger:in)Reichsvertretung der Deutschen Juden (Träger:in)
- Zugehörige Personen
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Bondy, Curt Werner (Leitung)Bernstein, Walter (Leitung)Scheier, Erwin (Leitung)Scheier, Ruth (Leitung)
- Quellen und Hinweise
- Harvey P. Newton [Hermann Neustadt], Erinnerungen an das KZ Buchenwald November – Dezember 1938, Leo Baeck Institute Archive (New York), Memoir Collection, ME 986.
- Literatur
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Werner T. Angress: Auswandererlehrgut Gross-Breesen, in: The Leo Baeck Institute Year Book 10 (1965). S. 168–187. online: <https://doi.org/10.1093/leobaeck/10.1.168>.
Werner T. Angress: Generation zwischen Furcht und Hoffnung. Jüdische Jugend im Dritten Reich, Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte. Hamburg: Christians 1985. online: <https://www.zeitgeschichte-hamburg.de/contao/files/fzh/Digitalisate/Werner%20T%20Angress%20Generation%20zwischen%20Furcht%20und%20Hoffnung.pdf>.
Werner T. Angress: … immer etwas abseits. Jugenderinnerungen eines jüdischen Berliner 1920–1945. Berlin: Edition Hentrich 2005.
Knut Bergbauer: Pioniere in der Provinz. Hachschara, Alija und jüdische Jugendbewegung in Schlesien, in: Ulrike Pilarczyk; Arne Homann; Ofer Ashkenazi (Hrsg.), Hachschara und Jugend-Alija. Wege jüdischer Jugend nach Palästina 1918-1941, Steinhorster Beiträge zur Geschichte von Schule, Kindheit und Jugend. Gifhorn: Gemeinnützige Bildungs- und Kultur GmbH des Landkreises Gifhorn 2020. S. 107–133.
Ernst Cramer: Erinnerungen an Buchenwald, in: Wolfgang Benz; Barbara Diestl (Hrsg.), Gericht und Gerechtigkeit. Dachauer Hefte. Studien und Dokumente zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 13. Dachau: Verlag Dachauer Hefte 1997. S. 135–141.
Ernst Cramer: Ich habe es erlebt. Berlin: Axel Springer-Verlag 2008.
Sheer Ganor: To Farm a Future. The Displaced Youth of Gross-Breesen, in: Bulletin of the GHI Washington, Supplements 15 (2020). S. 19–40. online: <https://perspectivia.net/receive/pnet_mods_00003552>.
Arie Goral-Sternheim: Jeckepotz. Eine deutsch-jüdische Jugend 1914–1933. Hamburg: LIT Verlag 1996.
Wolfgang Hadda: Knapp davongekommen – Von Breslau nach Schanghai und San Francisco. Jüdische Schicksale 1920-1947. Konstanz: Hartung-Gorre 1997.
Wolfgang S. Matsdorf: No time to grow. The story of the Gross-Breeseners in Australia. Jerusalem 1973.
Rudolf Melitz (Hrsg.): Das ist unser Weg - Junge Juden schildern Umschichtung und Hachscharah. Berlin: Joachim Goldstein Verlag 1937. online: <http://d-nb.info/1032728663>.
Alexander Karl Neumeyer: Von einer Generation zur anderen. Lebenserinnerungen, erzählt für meine Enkel, in: Robert Schopflocher; Rainer Traub (Hrsg.), »Wir wollen den Fluch in Segen verwandeln« Drei Generationen der jüdischen Familie Neumeyer. Eine autobiografische Trilogie. Berlin: Metropol 2007. S. 259–408.
Joseph Walk: The Diary of Günther Marcuse – the Last Days of the Gross-Breesen Training Centre, in: Yad Vashem Studies VIII (1970). S. 159–181.
Frank Wolff: Der Traum vom deutsch-jüdischen Bauern. Das Auswandererlehrgut Groß-Breesen (1935–1938) und die verspätete Emigrationspolitik des Centralvereins, in: Regina Grundmann; Bernd J. Hartmann; Daniel Siemens (Hrsg.), „Was soll aus uns werden?“ Zur Geschichte des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens im nationalsozialistischen Deutschland. Berlin: Metropol 2020. S. 195–237.
Wiebke Zeil: Zwischen landwirtschaftlicher Ausbildung und geistiger Gemeinschaft. Das jüdische Auswandererlehrgut Groß-Breesen „Zwischenwelt im Werden“ – die Etablierung des Lehrgutes, in: Knut Bergbauer u. a. (Hrsg.), Jüdische Jugend im Übergang – Jewish youth in transit. Selbstverständnis und Ideen in Zeiten des Wandels, Europäisch-Jüdische Studien - Beiträge. Berlin: De Gruyter 2024. S. 209–233. online: <https://doi.org/10.1515/9783110774702-008>.
Empfohlene Zitation
Wiebke Zeil, Jüdisches Auswandererlehrgut Groß-Breesen, in: Hachschara als Erinnerungsort, 12.12.2022. <https://hachschara.juedische-geschichte-online.net/ort/14> [21.11.2024].