Kibbuz Westerbeck (Hof Stern)

Art der Stätte
Mittleren-Hachschara (Mi-Ha), Reguläre Hachschara
Gegründet
1933
Eröffnung
01.1934
Schließung
11.1938
Betriebsfläche
23,64 Hektar
Stand Dezember 1938.
Aus dem Jahr 1931, also ein Jahr vor dem Kauf durch Rudolf und Leo Stern, liegt für den Hof die folgende Betriebsstatistik vor: 31 ha Gesamtumfang, davon 10 ha Ackerland, 14 ha Grünland (Wiesen/Weiden), 4 ha Wald, 3 ha Hofraum/Wege/Unland.
Mitte November 1938 befanden sich in den Stallungen des Hofes 10 Kühe, 4 Rinder, 3 Pferde, 2 Fohlen, 20 Schweine sowie ca. 40 Hühner.
Ausbildungsfelder
Hauswirtschaft, Holzbearbeitung, Landwirtschaft, Tierwirtschaft
Viehzucht (Rinder, Pferde, Schweine), Geflügelzucht (Hühner), Ackerbau (Getreide, Kartoffeln), Hauswirtschaft (Ernährung, Textilpflege, Garten)
Beschreibung
Am 15. November 1932 erwarben der Osnabrücker Pferdehändler Rudolf Stern und sein Bruder, der ebenfalls in Osnabrück tätige Kaufmann Leo Stern, im Zuge einer Zwangsversteigerung vor der Zivilkammer des Landgerichts Münster den Hof Elstroth in Westerkappeln. Als Eigentümerin wurde ihre Mutter Ida Stern eingetragen. So entstand auch der Name „Hof Stern“.
Laut Rückerstattungsakte 1950 haben die Brüder Stern die Hofstätte mit allen Wirtschaftsgebäuden und Flächen im Frühjahr 1933 der Reichsvertretung jüdischer Landesverbände als Ausbildungsstätte für jüdische Jungen und Mädchen zur Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina überlassen. Nach einem Bericht des SD Düsseldorf vom 3. Juli 1936 hingegen war das Umschulungslager „dem preußischen Landesverband jüdischer Gemeinden angeschlossen“. Betrieben wurde es vom Jüdischen Pfadfinderbund Makkabi Hazair. Der Hachschara-Betrieb begann auf dem Hof im Januar 1934 mit der Ankunft der ersten drei Chawerim: Henry Cohen aus Altkarbe, Edgar Adamski aus Leipzig und Markus Lichter aus Chemnitz.

Auf dem Hof waren als Verwalter tätig: Franz Wiegmann und seine Ehefrau Anna geb. Gode (März 1933 bis Oktober 1934), Arnold Houben und seine Ehefrau Wilhelmine geb. Röver (September 1934 bis Oktober 1935), Alois Krösche (1936-1938) sowie Siegfried Löwenstein und seine Ehefrau Dora, geb. Stern (Mai 1938 bis November 1938). Hinzu kamen zeitweilig eine Lehrkraft, ein Knecht bzw. ein Gärtner sowie eine Wirtschafterin, die für das Kochen und den Haushalt zuständig war.
Den Meldeakten der Amtsverwaltung Westerkappeln zufolge lebten zwischen Januar 1934 bis November 1938 insgesamt 97 Jugendliche und junge Erwachsene als Chawerim auf dem Hof; 31 weiblich, 66 männlich. Sie waren bei Ankunft im Durchschnitt 19 Jahre alt. Sie kamen aus Berlin (19 Personen), Essen (8), Leipzig (7), Köln (5), Düsseldorf (4) und ausländlichen Kleinstädten wie Jever, Herzlake, Burgsteinfurt oder Warburg sowie aus Dörfern wie Madfeld bei Brilon, Westerstede im Ammerland, Volzel in der Grafschaft Bentheim oder Klafeld bei Geisweid (Siegen). Sieben Personen wechselten aus anderen Hachschara-Einrichtungen nach Westerbeck: Sie kamen aus Altkarbe (4) sowie aus Ahlem, Ahrensdorf und Harksheide (jeweils eine Person).

Die Aufenthaltsdauer schwankte zwischen wenigen Wochen und – in zwei Ausnahmefällen – fast zweieinhalb Jahren. Der Durchschnittswert (Median) lag bei rund 190 Tagen. Allem Anschein nach fanden keine fest terminierten Lehrkurse mit mehr oder weniger geschlossenen Gruppen statt. Vielmehr vermitteln die Einträge des Meldeamtes für den Zeitraum zwischen Januar 1934 und Januar 1938 ein unregelmäßiges Kommen und Gehen. Die Jugendlichen verließen offenbar den Hof Stern, sobald die Alija für sie möglich wurde. Allerdings gab es eine auffällige Ausnahme: Am 18. Februar 1938 verlässt eine Gruppe von 18 Personen gemeinsam den Hof.

In den folgenden Monaten, von März bis August 1938, kamen den Meldeunterlagen zufolge lediglich fünf Chawerim auf den Hof. Hinzuzuzählen sind überdies neun Jungen zwischen 10 und 14 Jahren, die im Juli/August 1938 unter anderem aus Darmstadt, Essen, Hannover und Osnabrück anreisten und als „Ferienkinder“ einige Wochen auf dem Hof verbrachten.

In der Pogromnacht vom 9./10. November1938 überfielen Mitglieder der SA den Hof. Das Verwalterehepaar Löwenstein wurde brutal misshandelt, das Mobiliar zerstört und Fensterscheiben zerschlagen. Vier junge Männer lebten zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Hof Stern. Sie wurden ebenso wie der Verwalter Siegfried Löwenstein festgenommen und in Westerkappeln inhaftiert. Während Löwenstein nach einer Woche auf den Hof zurückkehren konnte, wurden die vier Männer für einige Wochen ins KZ Buchenwald verschleppt. Von dort konnten sie kurzzeitig auf den Hof Stern zurückkehren, den sie dann im Februar 1939 endgültig verlassen haben.

Der Eigentümer und Verpächter Rudolf Stern wurde in der Pogromnacht im November 1938 verhaftet und in das KZ Buchenwald deportiert, wo ihn die Gestapo zum Verkauf des Hofes zwang.
Der Hof wurde am 3. Dezember 1938 an den Landwirt Heinrich Pöppelwerth aus Haustenbeck/Lippe verkauft. Er hatte bis dahin einen Hof besessen, den er aufgrund der Erweiterung des Truppenübungsplatzes Senne durch die Wehrmacht aufgeben musste.
Rudolf Stern wurde 1941 in das Ghetto Riga und im September 1944 über das KZ Stutthof in das SS-Sonderlager Libau (Liepaja, Lettland) deportiert. Er überlebte das Kriegsende in Kiel in einem Außenlager des KZ Neuengamme und kehrte im Februar 1946 nach Osnabrück zurück. Wenig später forderte er die Rückerstattung seines Hofes. Das Landgericht Münster gab ihm im Urteil vom 28. März 1952 Recht, erklärte den Verkaufsakt von 1938 für nichtig und sprach Stern das Eigentum zu. Kurz nach diesem Urteilsspruch einigten sich Stern und Pöppelwerth auf einen außergerichtlichen Vergleich. Dessen Details sind nicht bekannt.
Im Grundbuch wurde Rudolf Stern im Juni 1952 als alter und neuer Eigentümer des Hofes eingetragen. Nach seinem Tod am 20. Januar 1957 wurde „auf Grund des Erbscheins des Amtsgerichts Osnabrück“ seine zweite Ehefrau Herta Stern (geborene Emmerich) alleinige Erbin seines Vermögens und damit auch Eigentümerin des Hofes. Von ihr erwarb der Landwirt Heinrich Pöppelwerth um 1960 die Hofstätte. Dessen Nachfahren sind heute Eigentümer des Hofes.

Ein Hinweis auf die einstige Hachschara-Stätte in Form einer Gedenktafel oder ähnlichem existiert bislang nicht. Überhaupt ist die Erinnerung an den Hof Stern in der Gemeinde Westerkappeln und ihrem Umland über Jahrzehnte blass geblieben. In der lokalen und regionalhistorischen Forschung zur jüdischen Geschichte ist der Hof in Westerkappeln bisweilen am Rand erwähnt, aber nicht eingehend erforscht worden. Das hat verschiedene Gründe, die oft auch für andere Hachscharot gelten: beispielsweise die fehlende Untersuchung der Ereignisse auf den Höfen, insbesondere auch des Pogroms 1938, und deren Verharmlosung. Diese Haltung zeigt sich bereits in der Antwort der Westerkappelner Gemeindeverwaltung und des Tecklenburger Oberkreisdirektors vom 4. November 1946 auf eine Anfrage der jüdischen „Central Historical Commission“ in München. Im Antwortschreiben ist für Westerkappeln von einer „Abwanderung der Juden ins Ausland“ nach dem Pogrom 1938 die Rede – und auch davon, dass die Juden in Westerkappeln „ein eigenes landwirtschaftliches Schulungslager“ unterhalten hätten, das „nach der Judenaktion aufgelöst“ worden sei. Warum sie „abgewandert“ sind und von wem die „Auflösung“ in welcher Form betrieben worden ist, wird nicht mitgeteilt. Diese Formulierungen spiegeln eine Verharmlosung und Verfälschung der tatsächlichen Ereignisse und entsprechen einem auch überregional wirksamen Muster des Beschweigens, der Umdeutung und Verdrängung.
Heutige Ansicht der ehemaligen Hachschara-Stätte (Gisbert Strotdrees, 2014)
© Gisbert Strotdrees
Heutige Ansicht der ehemaligen Hachschara-Stätte (Gisbert Strotdrees, 2014)
© Gisbert Strotdrees
Heutige Ansicht der ehemaligen Hachschara-Stätte (Gisbert Strotdrees, 2014)
© Gisbert Strotdrees
Bereits im Sommer 1935 versuchte die Gestapo Münster, das Umschulungslager auf dem Hof aufzulösen.
© NRW-Landesarchiv, Abt. Westfalen, Münster
Diese Liste, vermutlich 1938 angelegt, nennt viele der zeitweiligen Bewohner des Hofes Stern. Das Dokument stammt aus einer Akte im Gemeindearchiv Westerkappeln mit dem bezeichnenden Originaltitel „Hoch- und Landesverrat, staatsgefährdende Bestrebungen, Unruhe, Aufruhr, Auflauf, Aussperrungen, Streiks, usw.“
© Gemeindearchiv Westerkappeln
Im November 1937 beantragte die „Landw. Praktikantin“ Gerda Kayem aus Kaiserslautern einen Reisepass „mit Geltungsbereich In- und Ausland“.
© Gemeindearchiv Westerkappeln
Erhaltungszustand
teilweise erhalten

Das Haupthaus und die Scheunen sind erhalten, aber mehrfach umgebaut und modernisiert.

Zugehörige Organisationen
Zugehörige Personen
Houben, Arnold (Leitung)
Krösche, Alois (Leitung)
Löwenberg, Hans (Leitung)
Stern, Ida (Eigentümer:in)
Stern, Leo (Eigentümer:in)
Stern, Rudolf (Eigentümer:in)
Wiegmann, Anna (Leitung)
Wiegmann, Franz (Leitung)
Quellen und Hinweise
- Gemeindearchiv Westerkappeln (Meldelisten zum Hof Stern aus dem Einwohnermeldeamt Westerkappeln 1930–1950; Akte B 141 „Polizei / Hoch- und Landesverrat“)
- NRW-Landesarchiv Münster, Abt. Westfalen, Münster (Kreisbauernschaft Tecklenburg Nr. 79; Landratsamt Tecklenburg Nr. 917; Amtsgericht Tecklenburg Grundakten Nr. 4681; Rückerstattungen, Akte Nr. 14893).
- Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution, Bad Arolsen: Akte S 23832 (R. Stern, Osnabrück).
-Archiv Yad Vashem, Jerusalem – Ref. No 284175 M 1 L 285 (Kreisverwaltung Tecklenburg an Central Historical Commission of the Central Commitee of Liberated Jews in US-Zone, München, 4. November 1946).
- Kurt Lewin (Hachschara-Kibbuz Westerbeck): Mittleren-Hachschara, in: Der Makkabi, Nr. 1, 31.1.1938, S. 3f.
Literatur
Anke Beimdiek: Die SA hat alles kaputt geschlagen. Erinnerungen an den Hof Stern, in: Westfälische Nachrichten. 28. Februar 2006.

Peter Junk; Martina Sellmeyer: Stationen auf dem Weg nach Auschwitz. Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung – Juden in Osnabrück 1900-1945. Bramsche: Rasch Verlag 2000.

Ulrike Pilarczyk: Chalutzim – Zionist Photography in Germany and Palestine in the 1930s. A Comparative Analysis of Images, in: The Leo Baeck Institute Year Book 64 (1) (2019). S. 91–114. online: <https://doi.org/10.1093/leobaeck/ybz009>.

Gisbert Strotdrees: Eine Minderheit in der Minderheit. Jüdische Landwirte und Landeigentümer in Westfalen von den Emanzipationsgesetzen bis zur nationalsozialistischen „Arisierung“ (1800–1939/42), in: Iris Nölle-Hornkamp  (Hrsg.), Heimatkunde. Westfälische Juden und ihre Nachbarn, Ausstellungskatalog Jüdisches Museum Westfalen. Essen: Klartext Verlag 2014. S. 67–.

Gisbert Strotdrees: Ein Kibbuz in Westfalen, in: Jüdische Allgemeine. 22. Januar 2015. S. 3. online: <https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/ein-kibbuz-in-westfalen/>.

Gisbert Strotdrees: Fluchtpunkt Landwirtschaft. Auf Hachschara in Westfalen., Spurensuche_n im Gestern und Heute. Jüdisches Leben in Münster und im Münsterland. Digitales Ausstellungsprojekt der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 2021. 2021. <https://2021jimsl-spurensuche-n.de/hachschara-hof-stern-westerkappeln/>.

Empfohlene Zitation

Gisbert Strotdrees, Kibbuz Westerbeck (Hof Stern), in: Hachschara als Erinnerungsort, 12.12.2022. <https://hachschara.juedische-geschichte-online.net/ort/4> [03.12.2024].

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