Umschichtungsstelle der Reichsvertretung der Juden in Deutschland Berlin Niederschönhausen

Art der Stätte
Berufsumschichtung, Reguläre Hachschara, Vorlehre, Zwangsarbeit
Gegründet
1934
Eröffnung
1934
Schließung
05.1941
Betriebsfläche
Gelände der Flaschenfabrik des Ehepaares Selma und Paul Latte
Ausbildungsfelder
Gartenbau, Hauswirtschaft, Holzbearbeitung, Metallbearbeitung
Gärtnerei, Tischlerei, Schmiede, Schlosserei
Beschreibung
Im Januar 1934 verpachteten Selma und Paul Latte, Eigentümer einer großen Flaschenfabrik, Teile ihres Firmengeländes in Berlin Niederschönhausen an die „Reichsvertretung der Deutschen Juden“. Dort wurde eine Umschichtungsstelle eingerichtet, die Leitung der Umschichtungsstelle wurde dem Ingenieur Leopold Kuh und seiner Frau Ruth übertragen. Hier sollten junge Jüdinnen und Juden gezielt auf die Emigration vorbereitet werden. In Niederschönhausen lernten Jugendliche mit nicht-zionistischer, aber auch mit zionistischer Prägung, so dass hier von einem Neben- und Miteinander von Umschichtung und Vorlehre wie auch von Hachschara gesprochen werden kann. Die Einrichtung wurde vom Hechaluz als Hachschara Einrichtung anerkannt.
1936 wurde auf dem Gelände durch die Teilnehmer:innen mit der Tagesschule für Berufsvorlehre ein weiterer Ausbildungsort errichtet, der vorrangig berufsbildende Maßnahmen für schulentlassene Jugendliche bot. Die Tagesschule wurde durch Herrn Dr. Isaacson geleitet, anfänglich wurden drei Klassen für ca. 60 14–16-jährige Jugendliche eingerichtet. In beiden Einrichtungen wurden die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Bereichen Metallhandwerk, Holzhandwerk, Gartenbau und Hauswirtschaft praktisch ausgebildet. Während für die Hachschara das Erlernen der hebräischen Sprache obligatorisch war, kam in Niederschönhausen, wegen der nicht-zionistischen Teilnehmer:innen, auch Unterricht in Englisch hinzu. Der Alltag war eng strukturiert und ganztägig ausgefüllt. Nach Abschluss der Ausbildung erhielten die Teilnehmer:innen ein Zertifikat über die erworbenen Qualifikationen. Die nicht aus Berlin oder Umgebung stammenden Teilnehmer:innen wohnten auf dem Gelände. Für Anfang Januar 1937 ist der Aufenthalt von 54 jungen Menschen im Alter von 17–34 Jahren dokumentiert.

Am 21. Juni 1938 wurde die Umschichtungsstelle im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ zwischen dem 13. und 18. Juni 1938 („Juni-Aktion“) durch einen Mob überfallen, die Bewohner:innen bedroht und schikaniert, zahlreiches Inventar verwüstet und geraubt und die Tischlereiwerkstatt in Brand gesetzt. Am 9. November 1938 blieb dagegen die Einrichtung von Überfällen verschont.
Das Unternehmen von Selma und Paul Latte wurde 1938 durch einen Treuhänder liquidiert, das Ehepaar musste Ende 1938 in ein sogenanntes „Judenhaus“ nach Berlin Hermsdorf ziehen. Im Januar 1943 wurden sie nach Theresienstadt deportiert und starben beide kurz darauf an den unmenschlichen Bedingungen.
Die Umschichtungsstelle wurde auch unter den zunehmend schwierigen Bedingungen noch weitergeführt und zum 30. Mai 1941 aufgelöst. Leopold und Ruth Kuh emigrierten 1938/39 nach Großbritannien, Leopold Kuh war dort am Aufbau des „Kitchener Camps“ maßgeblich beteiligt. Auf dem Gelände der Flaschenfabrik und der Umschichtungsstelle befand sich ab 1941 ein Zwangsarbeiterlager.

Nach 1945 wurde das Gelände verschieden genutzt: u.a. wurden dort Kriegsflüchtlinge untergebracht, es entstanden vorübergehend Kleingärten, und eine Ausbildungsstätte der Volkspolizei wurde gebaut. Heute ist das große Areal der ehemaligen Flaschenfabrik ein Gewerbegebiet. An die Geschichte der Umschichtungsstelle und an das Schicksal des Ehepaares Latte erinnert seit 2016 eine Gedenkstele auf dem direkt benachbarten Selma-und-Paul-Latte-Platz.
Insgesamt sind 103 ehemalige Teilnehmer:innen der Hachschara Niederschönhausen namentlich bekannt: 42 von ihnen konnten emigrieren (v.a. Großbritannien, Palästina, USA, Australien), 16 wurden ermordet, zwei wurden deportiert und überlebten.
Erhaltungszustand
teilweise erhalten

Gewerbegebiet mit diversen Gewerken, nur noch spärliche Reste der Flaschenfabrik und der Umschichtungsstelle erkennbar (Bahngleise, einzelne Baracken).

Zugehörige Organisationen
Zugehörige Personen
Grunberg, Bernard (Teilnehmer:in)
Isaacson (Leitung)
Jaacov, Zeev (Teilnehmer:in)
Kuh, Leopold (Leitung)
Kuh, Ruth (Leitung)
Latte, Paul (Eigentümer:in)
Latte, Selma (Eigentümer:in)
Literatur
Inge Lammel: Jüdische Lebenswege. Ein kulturhistorischer Streifzug durch Pankow und Niederschönhausen. Teetz: Hentrich & Hentrich 2007.

Rudolf Melitz  (Hrsg.): Das ist unser Weg - Junge Juden schildern Umschichtung und Hachscharah. Berlin: Joachim Goldstein Verlag 1937. online: <http://d-nb.info/1032728663>.

Museumsverbund Pankow  (Hrsg.): „Am Gelände von Herrn Latte fing ein reges Leben an“. Die Flaschenfabrik Latte und die Ausbildung jüdischer Auswanderer in Berlin- Niederschönhausen. Leipzig: Hentrich & Hentrich 2020.

Empfohlene Zitation

Gudrun Schottmann, Umschichtungsstelle der Reichsvertretung der Juden in Deutschland Berlin Niederschönhausen, in: Hachschara als Erinnerungsort, 12.12.2022. <https://hachschara.juedische-geschichte-online.net/ort/10> [25.04.2024].

Dieses Werk unterliegt den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. Unter Namensnennung gemäß der Zitationsempfehlung darf es in unveränderter Form für nicht-kommerzielle Zwecke nachgenutzt werden.

Adresse

Wackenbergstrasse 61–65
13156 Berlin

Historische Verwaltungseinheit

Groß-Berlin

Karte