Landwerk Steckelsdorf-Ausbau

Art der Stätte
Mittleren-Hachschara (Mi-Ha), Religiöse Hachschara
Gegründet
circa 1933
Eröffnung
1934/1935
Schließung
05.1942
Betriebsfläche
20 Hektar
ca. 5 ha Landwirtschaft, 15 ha Gärtnerei
Ausbildungsfelder
Gartenbau, Hauswirtschaft, Landwirtschaft, Tierwirtschaft
Gärtnerei (Obst, Gemüse, Spargel, Blumen); Viehzucht (Rinder, Ziegen, Pferde); Geflügelzucht (Hühner), Hauswirtschaft (Koch- und Backkurse); Milchverarbeitung; Ackerbau (Getreide, Kartoffeln, Rüben)
Beschreibung
Der jüdische Berliner Rechtsanwalt Dr. Hans A. Meyer erwarb das Grundstück des späteren Hachschara-Landwerks im Dezember 1933. Ob die spätere Nutzung schon geplant war, ist nicht bekannt. Der Pachtvertrag mit der Reichsvertretung der Deutschen Juden wurde vermutlich 1934 abgeschlossen. Betrieben wurde das Landwerk vom Bachad, dem Dachverband der religiösen Chaluzim (Pioniere) in Deutschland. Die Anschrift lautete nun Landwerk Steckelsdorf-Ausbau, Post Rathenower Land. Ab Mai 1935 wurden unter der Leitung von Sigmar Bromberger, Manfred und Schoschana Litten siebzehn Jugendliche im Alter von 14–15 Jahren, dreizehn Jungen und vier Mädchen, unterrichtet. Das Milieu war jüdisch-religiös geprägt. Zu den Anlagen des Lagers gehörten das Wirtschaftsgebäude, in dem sich auch die Wohnungen des Betriebsleiters, des Gärtners und die Zimmer der Mädchen befanden. Kuh- und Pferdeställe sowie Geräteschuppen und Scheune bildeten mit dem Wirtschaftsgebäude das eigentliche Gehöft. Die Jungen waren in der sogenannten Sommervilla untergebracht. Zur Anlage gehörten auch ein Gewächshaus, Mistbeete und ein Hühnerstall. Obstplantagen, Gemüse- und Getreidefelder sowie ein Nadelwald umgaben das Gelände.

Die Ausbildung der Jungen konzentrierte sich auf das Erlernen aller landwirtschaftlich geprägten Tätigkeiten, von der Aussaat bis zur Ernte. Die Mädchen wurden je ein halbes Jahr in Hauswirtschaft unterrichtet. Ein weiteres halbes Jahr wurden sie in der Geflügelzucht und im Melken ausgebildet. Ein Teil des Gemüses und der Blumen wurde verkauft. Ein Händler auf dem Großmarkt am Alexanderplatz kaufte die Waren auf. Täglich drei bis vier Stunden waren der Aneignung und Erweiterung jüdischen und allgemeinen Wissens gewidmet. Als religiös geprägtes Lager wurde besonderen Wert auf diesen Teil der Ausbildung gelegt. Die Mehrzahl der Jungen hatte offensichtlich schon im Vorfeld eine Jeschiwa besucht und entsprechende Vorkenntnisse. Der spätere Leiter Dr. Abrahamson wurde sehr geschätzt. Er hatte ein großes jüdisches Wissen und beeindruckte die Jugendlichen durch seine ruhige, überzeugende Art. Neben den jiddischen Schriftstellen, wie unter anderem Scholem Alejchem oder Itzhok Leijb Perez, brachte er den Jugendlichen auch Arnold Zweig, Franz Kafka, Heinrich Heine und Kurt Tucholsky nahe. Aber auch der Sport kam nicht zu kurz. Hier war es besonders Herbert Schönewald, der als Nachfolger von Dr. Abrahamson nach Steckelsdorf kam und die Jungen und Mädchen gemeinsam Sporttreiben ließ. Er war sehr beliebt bei den Jugendlichen, die mit allen Fragen und Problemen zu ihm kommen konnten.

Bereits im Mai 1936 galt Steckelsdorf als voll belegt. Nun lebten etwa 70 Jugendliche in der Einrichtung. Wann die einzelnen Leiter:innen, pädagogischen Mitarbeiter:innen und Gärtner:innen in Steckelsdorf arbeiteten, ist nur in einigen Fällen nachvollziehbar. Ab dem 26. April 1937 war der Agronom Friedrich Löwenthal als Obergärtner in Steckelsdorf tätig. Einige der Jugendlichen erinnerten sich später daran, dass sie gerne bei ihm arbeiteten und lernten. Ernst (Mosche) Gillis war am 9. Dezember 1937 nach Steckelsdorf gekommen. Im Alter von 15 Jahren verließ er Deutschland nach Palästina mit einem Studentenvisum. Über seine Zeit in Steckelsdorf schrieb er: „Steckelsdorf war für mich die beste Zeit in Deutschland. Wir lebten dort, wie in einer kleinen jüdischen Autonomie, hatten nicht wie in Beuthen oder Frankfurt, alltäglich am Naziregime zu leiden. Dennoch war auch Steckelsdorf nur bedingt sicher.“

Wie an anderen Orten in ganz Deutschland wurden am 28. Oktober 1938 die jungen Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft abgeholt und nach Polen abgeschoben. Ebenso dramatisch war der 9. November 1938. Bereits in den Morgenstunden begannen die Verhaftungen und Abtransporte. Am Abend wurde das Landwerk gestürmt und verwüstet. Alle männlichen Leiter und Verantwortlichen wurden verhaftet und später nach Buchenwald gebracht. Neben Friedrich Löwenthal handelte es sich dabei um den Betriebsleiter Hofbauer, um Herbert Schönewald und um Simon Berlinger. Bei den Ausschreitungen wurden auch sämtliche Fensterscheiben zertrümmert, so dass ein Schaden von 1.000 Mark entstand, der zu Lasten des Reichsverbands der Juden in Deutschland ging. Das Landwerk wurde geschlossen.

Mitte November hatten wohl alle Jugendlichen das Landwerk verlassen. Da den Nationalsozialisten an einer Fortführung des Lagers gelegen war, wurde Steckelsdorf wieder aktiviert. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland bemühte sich Anfang 1939 das Lager wieder als Hachschara-Lager zu betreiben, was ihr nach längerer Auseinandersetzung, insbesondere was die Zahlung der Pacht betraf, auch gelang. Im November 1939 waren 53 Jugendliche in Steckelsdorf registriert, 26 davon waren weiblich. Im Dezember 1939 kam Ezra Ben Gershôm (geb. als Ezra Feinberg) als 17-Jähriger zur Ausbildung nach Steckelsdorf. Das Durchschnittsalter der 1939 in Steckelsdorf lebenden Jugendlichen betrug 18 Jahre. Es gab aber auch eine kleine Gruppe 25–30-Jähriger. Ab Herbst 1940 wurden die jungen Bewohner:innen immer mehr für Arbeiten außerhalb des Landwerks zwangsverpflichtet. So mussten sie im Straßenbau, in der Landwirtschaft, aber auch in der Rüstungsindustrie tätig werden. Viele wurden in der optischen Industrie Rathenows, aber auch in einer Gärtnerei und einer Baumschule in Neue Schleuse (heute Rathenow West) eingesetzt. Zwischen Sommer 1940 und 1941 verwandelte sich Steckelsdorf (sukzessive) in ein „Arbeitseinsatzlager“.

Ende 1940 oder Anfang 1941 kam Kurt Silberpfennig zunächst als stellvertretender pädagogischer Leiter nach Steckelsdorf. 1941 gewann das Landwerk immer mehr an Bedeutung als letzte Zufluchtsstätte, auch für ältere Juden. Die Zahl der Bewohner:innen stieg in dieser Zeit auf über 100. Einschneidend war das im Oktober 1941 für Juden erlassene Auswanderungsverbot aus Deutschland. Nun war den Chawerim aus Steckelsdorf jede Möglichkeit genommen, Deutschland zu verlassen. Immer schwerer wurde das Dasein für die Bewohner:innen. Sie hatten kaum Zeit sich um die eigene Wirtschaft zu kümmern, stieg doch die Zwangsarbeitszeit im Frühjahr 1942 auf elf und später sogar auf zwölf Stunden an. Hinzu kamen die weiten Wege, so dass ein vierzehn bis fünfzehn Stunden Tag die Regel war. Am 21. Mai 1942 traf ein Schreiben in Steckelsdorf ein, welches das dramatische Ende ankündigte. Die Bewohner:innen des Landwerks wurden aufgefordert, sich in drei Tagen zur „Umsiedlung“ bereit zu halten. Drei Tage später wurde die Steckelsdorfer Einrichtung offiziell geschlossen. Eine Gruppe von 15 Personen, die in der optischen Industrie tätig waren sowie die Stammbelegschaft des Landwerks blieben zurück.

Am 28. Mai 1942 stellte der Oberfinanzpräsident von Berlin den Antrag, das Deutsche Reich als Eigentümer der Grundstücke des Landwerkes Steckelsdorf einzutragen. Dies erfolgte bereits am 15. Juni 1942. Wohin die ehemaligen Chaluzim gebracht wurden, ist nicht bekannt. Am 26. Februar 1943 wurde das Lager endgültig geschlossen und die letzten jüdischen Bewohner:innen deportiert. 1944 erwarb das Ehepaar Fehmann das Grundstück des Landwerks und richtete hier eine pharmazeutische Fabrik ein. 1953 wurde aus der Sommervilla des ehemaligen Landwerks ein Kinderheim. Als solches wird es auch heute noch betrieben. Eine Gedenktafel am Eingang des Wohngebäudes erinnert seit 1997 daran, dass sich hier von 1934 bis 1942 ein Hachschara-Lager befand.
Landwerk Steckelsdorf – Ausbau, Sommervilla von vorne (unbekannt, unbekannt)
© Archiv Kulturzentrum Rathenow GmbH
Landwerk Steckelsdorf – Ausbau, Sommervilla von hinten
© Archiv Kulturzentrum Rathenow GmbH
Eine Gruppe Chawerim im Landwerk Steckelsdorf 1940 (unbekannt, unbekannt)
© Archiv Kulturzentrum Rathenow GmbH
Ezra Ben Gershôm 1992 in Rathenow (unbekannt, 1992)
© Archiv Kulturzentrum Rathenow GmbH
Das ehemalige Landwerk Steckelsdorf – Ausbau, heute Kinderheim (Bettina Götze, 2000)
© Archiv Kulturzentrum Rathenow GmbH
Das ehemalige Landwerk Steckelsdorf – Ausbau, heute Kinderheim (Bettina Götze, 2000)
© Archiv Kulturzentrum Rathenow GmbH
Gedenktafel zur Erinnerung an das Landwerk Steckelsdorf – Ausbau, 1997 (Bettina Götze, 1997)
© Archiv Kulturzentrum Rathenow GmbH
Erhaltungszustand
teilweise erhalten

baulich teilweise verändert

Zugehörige Organisationen
Bachad (Träger:in)
Zugehörige Personen
Berlinger, Seev (Wolf) (Teilnehmer:in)
Berlinger, Simon (Assoziierte)
Gershôm, Ezra Ben (Teilnehmer:in)
Groß, Heinrich (Leitung)
Groß, Martha (Leitung)
Hofbauer (Leitung)
Lippmann, Joachim (Assoziierte)
Litten, Manfred (Leitung)
Löwenthal, Friedrich (Beschäftigte:r)
Löwenthal, Luise (Beschäftigte:r)
Meyer, Kurt A. (Eigentümer:in)
Silberpfennig, Rita (Beschäftigte:r)
Unger, Ariel (Leitung)
Quellen und Hinweise
Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA): J.551, Reg.55, Nr. 033.064; Nr.18.450; Nr.25517
LA Magd.-LHA-: Rep. G 11 Devisenstelle Nr. 3209
LA Magd.-LHA-: Rep.C20 I, Ib Nr. 1996 V Blatt 120
Literatur
Ezra BenGershôm: David. Aufzeichnungen eines Überlebenden. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 1989.

Bettina Götze: Rathenow, in: Irene Annemarie Diekmann  (Hrsg.), Jüdisches Brandenburg. Geschichte und Gegenwart, Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thuringen. Berlin: VBB, Verlag für Berlin-Brandenburg 2008. S. 304–328.

Jizchak Schwersenz: Die versteckte Gruppe. Ein jüdischer Lehrer erinnert sich an Deutschland. Berlin: Wichern Verlag 1988.

Michael Wermke: Ein letztes Treffen im August 1941. Kurt Silberpfennig und die Praxis religiös-zionistischer Pädagogik, Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland. Münster: Waxmann 2020.

Empfohlene Zitation

Bettina L. Götze, Landwerk Steckelsdorf-Ausbau, in: Hachschara als Erinnerungsort. <https://hachschara.juedische-geschichte-online.net/ort/13> [18.04.2024].

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Provinz Sachsen

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